Menschen mit Behinderung in Aktion

Menschen mit Behinderung (MmB) sind Teil unserer Bewegung. In der Gesellschaft fehlt für sie oft die Sichtbarkeit, und das gilt leider auch in der Arbeit zu Antirepression. Oft mangelt es uns an Wissen, wie sich spezielle Rechte und Diskriminierungen für aktivistische MmB in der Praxis auswirken. Eine selbstorganisierte Gruppe von Betroffenen hat deshalb Fragen gesammelt und ein rechtliches Gutachten in Auftrag gegeben. Dessen Ergebnisse fassen wir hier zusammen – komplett könnt ihr das Gutachten hier als pdf herunterladen.

ALLGEMEINES

Die Strafprozessordnung (StPO) kennt keine Menschen mit Behinderung. Soll für MmB ein Ausgleich für Benachteiligungen erreicht werden, muss dieser aus höheren Gesetzen hergeleitet werden. Hierfür sind besonders wichtig:

  • Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK)
  • und das Grundgesetz (GG), speziell der Gleichbehandlungsgrundsatz

Diese Herleitung macht einiges schwieriger. Es muss umständlich argumentiert werden, und absurderweise führt eine höhere Gesetzesebene dazu, dass Richtlinien leichter ignoriert werden können. Sie sind schwammiger gefasst, weil sie auf eine Vielzahl von Fällen zutreffen (könnten).

Eine andere Möglichkeit ist, sich auf bereits gefällte Gerichtsurteile zum Thema zu berufen. Diese gibt es aber nicht für jeden Fall, und sie sind auch nicht immer vorteilhaft für uns.

Stück für Stück werden wir nun die Antworten des Rechtsgutachtens auf Fragen besprechen, die Betroffene gestellt haben.

IN DER AKTION

Verschiedeene Menschen auf Schienen sitzen im Kreis, eine Person im Rollstuhl ist dabei von hinten zu sehen. Personen reden miteinander. Im Hintergrund Bäume.Die rechtliche Bewertung des Umgangs von Polizist*innen und anderen Ordnungskräften mit MmB in Aktionen ist sehr stark einzelfallabhängig. Eine juristische Prüfung erfolgt sehr selten, und kaum je unter vollständiger Kenntnis der Geschehnisse. Es gilt der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes: Die Polizei darf Angehörige einer im Grundsatz gleichartigen Menschengruppe (wie z.B. Teilnehmende einer Blockade) nicht verschieden behandeln. Dieser Grundsatz ist aber in der geltenden Rechtsprechung stark eingeschränkt: Ungleichbehandlung ist aufgrund eines „nachvollziehbaren Grundes“ erlaubt, darf nur nicht willkürlich sind. Körperliche Ungleichheiten können hierfür schon ausreichen. In der Folge kommt es immer auf den Einzelfall und die Bewertung des überprüfenden Gerichtes an. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die Polizei Sondermaßnahmen an MmB als für diese vorteilhaft darstellen wird.

Ein häufiges Praxisproblem stellt die Frage dar, ob Rettungssanitäter*innen MmB aus ihren Rollstühlen entfernen dürfen, um die Räumung für die Polizei zu erleichtern. Da Sanitäter*innen (im Gegensatz zur Ärzt*innen) nicht zu den freien Berufen zählen, fällt es ihnen schwerer, Aufträge der Polizei abzulehnen. Sie sind auch grundsätzlich für den Transport zwischen zwei Rollstühlen qualifiziert. Aus Blick des Benachteiligungsverbots muss diese Maßnahme aber von der Polizei besonders begründet werden, eine reine Arbeitserleichterung sollte hierfür nicht ausreichen. Auch dies ist in der Praxis eine Einzelfallentscheidung des überprüfenden Gerichts. Dabei werden der Nachweis der Unterschiede zwischen den Rollstühlen, die Dauer der Verbringung und die tatsächlichen Schwierigkeiten, die eine Räumung des Spezial-Rollstuhls bedeutet hätte, von Bedeutung sein.

IM GEWAHRSAM

Gemeinsame Unterbringung mit Assistenz-Personen

Grundsätzlich dürfen nur Menschen in Gewahrsam genommen werden, bei denen die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung vorliegen. In vielen Aktionen wird dies auf eine rein begleitende Assistenz nicht zutreffen. Eine freiwillige Begleitung ins Gewahrsam ist nicht vorgesehen. Sollten jedoch beide Personen in Gewahrsam genommen werden, kann durchaus eine gemeinsame Unterbringung gefordert werden. Erschwert wird dies durch Personalienverweigerung, die z.B. den Nachweis des Behinderungsgrades unmöglich macht. Zudem gibt es für diesen Versuch keine gesicherte Rechtsgrundlage.

Anspruch auf fachgerechte ärztliche Behandlung im Gewahrsam

Leider gibt es im Gewahrsam keinen Rechtsanspruch auf Fachärzt*innen. Ein aus Sicht eines MmB nicht fachgerechtes ärztliches Gutachten kann in der Praxis erst im Nachgang gerichtlich angegriffen werden.

Transport zur GeSa

Mensch im Rollstuhl auf Schienen wird von etwa 5 Polizisten versucht wegzutragenAus Sicht der Gleichbehandlung müsste der Transport in einem den körperlichen Bedürfnissen eines MmBs angepassten Fahrzeug angebracht sein. Wie oben bereits angeführt, genügt eine bloße Arbeitserleichterung der Polizei nach Meinung des Rechtsgutachtens nicht als Gegengrund. Auch hier gibt es aber keine bekannten Praxisbeispiele, in denen dies gerichtlich bestätigt wurde.

Behindertengerechte Behandlung in der GeSa

Die UN-BRK schreibt Schulungen für das Personal von Polizei und Justizvollzugsanstalten (JVAs) zur besonderen Situation von MmB vor. In vielen JVAs gibt es mittlerweile barrierearme Hafträume. Im Polizeigewahrsam hingegen wird dies meist nicht der Fall sein, hier gelten weniger strenge Vorgaben. Tritt dies ein, kann ein Gewahrsam in seiner Art und Weise unverhältnismäßig werden. Dies wurde in einem Einzelfall bereits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt.

Während einer Freiheitsentziehung können auf dieser Grundlage Anträge darauf gestellt werden, das Gewahrsam zu beenden, oder die betroffene Person in behindertengerechte Hafträume zu verlegen. Im Nachhinein kann die Rechtswidrigkeit eines Gewahrsams durch eine Verwaltungsklage festgestellt werden. Darüber hinaus kann ein Hinweis an die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter gegeben werden. Sie ist bundesweit für die Kontrolle von Hafträumen zuständig, und Hinweise können die Auswahl der Stichproben beeinflussen.

Hilfsmittel von MmB in der GeSa

Grundsätzlich werden im Gewahrsam sämtliche Gegenstände vom Personal sichergestellt, die beweiskräftig oder geeignet sind, bei sich oder anderen Verletzungen herbeizuführen. Meist ist dies einfach alles, was ein Mensch dabei hat. Auch Hilfsmittel von MmB dürften häufig davon betroffen sein. Dem entgegen steht die Menschenwürdegarantie im Grundgesetz. Teilweise finden sich für MmB relevante Ableitungen davon in den Gewahrsamsordnungen der Bundesländer – hier lohnt es sich, nachzulesen.

In der Praxis ist man im Gewahrsam stark der Willkür der Wärter*innen ausgeliefert. Wir können versuchen, vor Ort gut zu argumentieren und eventuell später die Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen, um das Verhalten des Personals in zukünftigen Fällen zu beeinflussen. Wird ein Hilfsmittel während der Sicherstellung beschädigt oder zerstört, entsteht sehr wahrscheinlich ein Schadensersatzanspruch für die betroffene Person. Bei Beschädigungen während des Polizeieinsatzes in der Aktion ist dies deutlich schwieriger.

STRAFVERFAHREN UND STRAFE

Anwesenheitspflicht bei Gerichtsverhandlungen

In den meisten Gerichtsverfahren gilt für die angeklagte Person die Pflicht, persönlich zu erscheinen. Eine Anreise zu Gerichtsverhandlungen ist für MmB oft ungleich aufwändiger. Leider gibt es kein Schlupfloch, um diese Anwesenheitspflicht zu umgehen. Der Gerichtsstand (also der Ort, an dem ein Prozess stattfindet), ist zwar unter anderem am Wohnort des*der Angeklagten begründet. In den meisten Fällen wird aber als Standard an dem Ort verhandelt, an dem die Straftat stattgefunden haben soll. Eine Verlegung zum Gerichtsstand am Wohnort kann beantragt und mit dem Anreisehindernis begründet werden, der Ausgang ist aber ungewiss.

Mittellose MmB können (auch im Voraus) einen Antrag auf Übernahme der Reise- und Unterbringungskosten stellen. Fallen durch die Auswirkungen der Behinderung höhere Kosten an, müssen diese begründet werden. Nicht mittellose MmB könnten versuchen, die Übernahme auf Basis von Art. 13 der UN-BRK zu erstreiten (gleichberechtigter Zugang zum Justizsystem), hierfür gibt es aber keine Beispiele.

Kommunikation

Angeklagte müssen vor Gericht (auch im Schriftverkehr) in die Lage versetzt werden, Inhalte zu verstehen und selbst verstanden zu werden. Dabei sind viele Varianten denkbar, je nach Art der Behinderung. Relevant sind dabei die §§ 186 und 191a des Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Von diesen sind ganz verschiedene Arten der Hör-, Sprach- und Sehbehinderung erfasst. Betroffene können demnach selbst wählen, ob sie technische Hilfsmittel oder eine „übersetzende“ Person hinzuziehen möchten. In diesem Wahlrecht hat das Gericht nur geringe Spielräume der Ablehnung, z.B. wenn die Übersetzung als nicht ausreichend oder unverhältnismäßig aufwendig bewertet wird.

Technische Hilfsmittel hierfür hat das Gericht zu stellen. Eine Person als Kommunikationsmittler*in kann frei gewählt werden. Es ist möglich, dass diese durch das Gericht vereidigt wird. Die Form der Kommunikation kann von Betroffenen und Übersetzenden gewählt werden.

Blinde und sehbehinderte Personen dürfen Dokumente in einer für sie wahrnehmbaren Form einreichen, umgekehrt müssen ihnen Dokumente in dieser Form zugänglich gemacht werden. Sie sind verpflichtet, dem Gericht die Form der Kommunikation bei Beginn des Verfahrens mitzuteilen.

Die Zugänglichkeit von visuellen Inhalten in der Hauptverhandlung (z.B. Videos, die als Beweismittel genutzt werden) ist leider nicht in der GVG geregelt. Für spezielle Maßnahmen müsste an dieser Stelle ein Antrag unter Berufung auf die UN-BRK gestellt werden. Auch kognitive Behinderungen sind nicht erfasst, und müssen über das UN-BRK beantragt werden. Mangels genauer gesetzlicher Regelung liegt hier die Entscheidung in der Willkür des Gerichts.

Die Kosten jeglicher Kommunikationsmittlung werden durch den Staat getragen.

Pflichtverteidigung

Unter bestimmten Bedingungen haben Beschuldigte in Strafverfahren Anspruch auf eine Pflichtverteidigung. Das heißt, das ein*e Anwält*in zuerst vom Staat bezahlt wird. Nur im Falle einer Verurteilung muss die beschuldigte Person das Geld zurückzahlen. Die Voraussetzungen sind im §140 StPO geregelt. Menschen mit einer seh-, sprach- oder Hörbehinderungen haben auf Antrag immer Anspruch auf eine Pflichtverteidigung. Allerdings wird nicht jede Behinderung von Gerichten auch als solche anerkannt. Hier gibt es also Spielraum für Willkür.

Andersherum besteht die Gefahr, dass MmB nach dieser Norm Pflichtanwält*innen gegen ihren Willen zugeteilt werden – z.B. dann, wenn das Gericht die Betroffenen als nicht in der Lage zu Selbstverteidigung bewertet.

Ablauf der Hauptverhandlung

Leider besteht in deutschen Gerichtsgebäuden durchaus Gefahr, dass MmB, die beispielsweise auf Rollstühle angewiesen sind, sich aufgrund baulicher Mängel des Saales nicht neben ihrer Verteidigung aufhalten können, oder anderweitig nachteilig positioniert sind. Schafft das Gericht dem keine Abhilfe, kann dies leider während des Verfahrens nicht beanstandet werden. Erst nach einer Verurteilung kann der Missstand als Revisionsgrund angeführt werden. Die Schwellen für eine erfolgreiche Revision sind aber recht hoch.

Für viele MmB ist außerdem wichtig, dass sich ihre persönliche Assistenz jederzeit in ihrer Nähe aufhalten darf. Eigentlich dürfen aber nur Prozessbeteiligte auf der Anklagebank sitzen. Sollte die Assistenz auch Kommunikationsmittler*in sein, ist ihre Anwesenheit in jedem Fall gerechtfertigt. In jedem anderen Fall müsste hierfür erneut über Art. 13 der UN-BRK argumentiert werden. Es gibt aber leider keine konkrete Rechtsgrundlage.

Sollten MmB Liegen (oder ähnliche Hilfsmittel) oder Unterbrechungen der Verhandlung benötigen, um körperlich in der Lage zu sein, dieser zu folgen, muss auch hier über die UN-BRK argumentiert werden. Ärztliche Atteste sind dabei hilfreich.

Wichtig ist darüber hinaus: Rechtliche Betreuer*innen von Beschuldigten haben im Strafverfahren keine besonderen Rechte, und müssen als Zuschauer*innen teilnehmen.

U-Haft und Strafhaft

Aufenthalte in Gefängnisse lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Untersuchungshaft (vor dem Ende einer Hauptverhandlung, zur Verfahrenssicherung) und Strafhaft (nach einer Verurteilung, das Absitzen der eigentlichen Strafe). Strafhaft kann nach §433 StPO aufgeschoben werden, wenn die Einrichtungen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) mit dem Gesundheitszustand von Verurteilten unvereinbar sind. Dies kann bei körperlichen Behinderungen geprüft werden. Für die U-Haft gibt es leider keine entsprechende Regelung. Es kann mit einer Unverhältnismäßigkeit argumentiert werden, dies ist aber ungleich schwieriger.

Dieser Newsletter-Schwerpunkt stellt nur eine Zusammenfassung des zugrundeliegenden Rechtsgutachtens dar. Das findet ihr hier komplett: MmB und Strafjustiz sowie im RechtbeiAktionen (pdf)